Würmer, Kompost und eine Zeremonie

Es war vorletztes Jahr im grauen Berliner Januar, als ich auf Facebook ein außergewöhliches Event
angezeigt bekam. Einen Workshop zum Bauen einer Wurmkiste, ein Kompost für zuhause, in der Wohnung.
Als begeisterte Gärtnerin wusste ich, das konnte ich mir nicht entgehen lassen.
Unser Gemeinschaftsgarten, leider fast zwei Stunden mit der Bahn entfernt, hatte gerade Winterschlaf.
Und was gibt es besseres, als sich im Winter in Berlin mit Workshops die Abende zu füllen.

Neugierig saßen Patrick, Marco und ich, (wir sind die Gartenfreunde, die zusammen gärtnern) mit ein
paar anderen Teilnehmern an einem Tisch in Neukölln im Kulturlabor Trial&Error. Es gab eine Kanne
Tee und auf dem Tisch lagen bereits Utensilien.
Ein Fahrradschlauch, mehrere sehr große leere Joghurteimer, Werkzeug und Schraubgläser mit etwas
unappetitlich anmutenden Inhalt. Eines mit brauner Brühe und ein anderes mit festen dunklen
Erdklumpen. Die beiden Workshopleiter stellten sich vor und wir erfuhren alles über verschiedene Würmer, wie sie leben, was sie essen, bei welchen Temperaturen sie sich wohlfühlen und wie man sie gut vermehren kann. Auch, dass man sie getrost mehrere Wochen alleine lassen kann, wenn man mal in den Urlaub fährt. Die kommen gut alleine klar, wenn sie genug, aber auch nicht zu viel (!), zu fressen haben.

Danach ging es an den Bau des Wurmturms aus den Eimern. Wenige Bauteile, alles recycled und umsonst.
Der Fahrradschlauch dichtet die ineinandergesteckten Eimer ab, damit kein Wurm rauskrabbelt.
Ansonsten braucht es nur ein paar Löcher an den richtigen Stellen für die Belüftung, und damit die
Würmchen in der Kiste Bewegungsfreiheit haben. Dann wird der obere Eimer gefüllt, mit leckerem
Pflanzen- und anderem Fressmaterial, wie z.B. Eierschalen und Eierkartons, Blätter und kleine Äste.
Zuletzt werden die Würmer aus dem Glas mit festerem Inhalt in den Eimer gebracht.
Es sollen unglaubliche viele darin sein, ich kann es mir nicht vorstellen, denn sehen tut man sie kaum.
Das Glas mit flüssigem Inhalt wird demonstriert und wir können daran schnuppern. Es ist nicht gerade
lecker… der Wurmtee. Er entsteht während des Kompostierens und sickert in den untersten Eimer,
wo man ihn ganz einfach ausleeren und so ernten kann. Für Zimmerpflanzen ist er bester, ich betone,
ausgezeichneter! Dünger, sowas kann man nicht kaufen, sowas muss lange reifen und von den fleißigen
Würmern produziert werden.
Am Ende wurde der Wurmturm verlost… Jeder warf einen Zettel mit seinem Namen in einen Hut und
der glückliche Gewinner war – Patrick! Wir waren also nun stolze Besitzer von ca. 500 Würmern, die wir
unterm Arm mit der Bahn in unsere Küche transportierten.

Die erste Zeit mit unseren neuen Mitbewohnern war aufregend und wir freuten uns jedesmal, wenn
wir Möhren und Kartoffeln schälten, welke Salatblätter zum aussortieren hatten und auch den Kaffeesatz
nicht jedesmal nur in den Biomüll warfen. Die Würmer zu füttern machte Freude und man konnte
sie tatsächlich in den Eimern kauen und knuspern hören, wenn man ganz leise war!

Einige Wochen später, immer noch Winter, bei einer WG Party mit dem sehnsuchtsvollen Motto „Dschungel“, kam mir einer der Gäste sehr bekannt vor. Ich kam erst darauf, als wir uns über unsere fast identischen Brillen unterhielten und ich seine begeisterte Stimme mit französischen Akzent wiedererkannte.

Er war der Workshopleiter mit den Würmern.
„Oui, isch bin Jonathan, isch bin Wurmaktivist“, strahlte er durch seinen blondroten Bart.
In der Hand hielt er einen riesigen Wanderstock mit prächtigem Blattwerk am oberen Ende. Der Stock
war größer als er selbst. „Das ist Braunkohl“, klärte er mich auf. „Er wird bis zu 2 Meter hoch“.
Ich war ziemlich beeindruckt, amüsiert und neugierig. Jonathan arbeitet im Wedding in
einem Gartenprojekt namens Himmelbeet. Seine Vision ist es, eine Online-Plattform zu starten, auf der
man sich über Kompost austauschen und vernetzen kann, um Würmer zu vermehren und weiterzugeben.
Worm-Sharing für den sozio-ökologischen Wandel.

In Frankreich ist die Wurmkopostierung zuhause schon verbreiteter als bei uns. (Dies sah ich letztens,
schön dargestellt in einer französischen Romanze… da trank der Liebhaber, wartend bis die Dame des
Hauses aus dem Badezimmer zurückkam, durstig wie er war – aus dem Wurmteeglas…)
Hierzulande erntet man nur fragende und leicht angewiderte Blicke, wenn es um den Kompost im Haus
geht. Dabei sind sie solch saubere Helfer im Haushalt. Und nein, es stinkt nicht, wenn man ein paar
Sachen richtig macht.

Mir gefiel sein Enthusiasmus über Würmer, Kompost und ökologische Transformation zu reden und ich
lud ihn zu unserem kleinen Festival im kommenden Sommer ein, vielleicht hatte er Lust die Gäste auch
dort für seine Vision zu begeistern.
Tatsächlich schlug Jonathan am Festival auf, spontan, und voller Neugier, was ihn da erwartet.
Es war sein erstes Festival dieser Art und sollte auch ihn nachhaltig beeindrucken, wie er mir am Ende
erzählte.

Unser Festival mit dem klangvollen Namen „Chigal“ entstand aus einer bunt gemischten Truppe und
hat sich über mehrerer Jahre vom Rave mit Freunden zu einem sommerlichen Zusammenkommen von
rund 500 Leuten entwickelt.

„Chigal“, ist usbekisch und heißt verwirrt und verwoben. Verwirrend wird es automatisch, wenn rund
30 Macher*innen verschiedenster Branche und Couleur sich selbst verwirklichen und danach mit den
Gästen ein Wochenende lang der kollektiven Verrückung frönen wollen.
Verwoben ist es ohnehin, denn wer kommt, der bringt sich ein mit allem was er kann und offenbaren
will. Alle kennen sich, mehr oder weniger, über Ecken. In der familiären Atmosphäre wird man schnell
zu Freunden und es entstehen neue Ideen, die zusammen verwirklicht werden.

Nach diesem Mal hatten Jonathan und ich geplant für das kommende Chigal einen umfangreicheren Kompost-Workshop anzubieten und ich freute mich schon jetzt darauf.
Das Jahr verging wie im Flug, viel Gartenarbeit und leider auch Verlust einiger Würmer,
aber das Chigal stand vor der Tür und während des ganzen Organisations-Stress vor dem Festival, blieb
keine Zeit um mich mit Jonathan richtig zu treffen.

Entspannt wie er als Wurmaktivist aber ist, war er zuversichtlich, dass alles schon da sein wird, was dafür
nötig ist. Es sollte nämlich eine Heißkompostierung werden. Alle organischen Abfälle, die während
des Festivals in der Großküche anfielen, sollten kompostiert werden.
Heißkompostierung also.
Als ich die Idee in der Festival-Orga vorstellte, hatten wir alle noch keine Ahnung wie so eine Kompostierung
ablaufen würde. Aber wir sponnen uns zusammen aus, es könnte ein krönender Abschluss des
Festivals werden, sowas wie die berühmte brennende Figur auf dem Burning Man in der Wüste Nevadas…
Heißkompostierung, das klang jedenfalls nach einem richtigen Happening.

Aus der Heißkompostierung wurde durch all die co-kreativen Kräfte am Chigal 2019 eine
improvisierte allererste Kompostzeremonie.
Sowas hat selbst Jonathan noch nicht gemacht, das merkte man ihm aber gar nicht an.
Der Kompostschamane lud am Sonntag Abend mit einem selbstgemalten Plakat und handgeschriebenen
Klopapier-Flyern (natürlich nur 2 lagig, recycled!) an den Rand des Geländes ein.
Es versammelte sich eine kleine aber feine Truppe zur Zeremonie, während der Großteil noch auf der
Tanzfläche tanzte.
Wir standen im Kreis und hielten uns an den Händen, andächtig lauschten alle dem Schamanen mit
dem Strohhut und dem Spaten…

 

Was genau bei der Zeremonie geschah, bleibt die ureigene Erfahrung der Teilnehmer*innen und Geheimnis des Schamanen. Mit etwas Glück, trefft ihr jemanden, der sie mit euch teilt und davon erzählt. Ansonsten gibt es hier zumindest einige visuelle Eindrücke der ersten Kompostzeremonie auf dem Chigal 2019…
Vielen Dank, lieber Jonathan für diesen schönen Festivalabschluss!